New Work

„In Arztpraxen muss ein Kulturwandel stattfinden“

Die ganze Unternehmenswelt spricht seit einigen Jahren von New Work. Damit ist ein Wandel der Arbeitswelt durch Digitalisierung und Globalisierung gemeint, ein Transformationsprozess. Es geht dabei aber vor allem auch um ein neues Mindset: um Diversität, Sinnhaftigkeit, flexiblere Arbeitszeiten und mehr Eigenverantwortung. Aber wie sieht das neue Arbeiten eigentlich in den Arztpraxen aus? Dr. Wolfgang von Meißner ist Hausarzt und einer der Gesellschafter der Praxisgemeinschaft „Hausärzte am Spritzenhaus“ in Baiersbronn im Schwarzwald. Er hält diesen Wandel auch in Arztpraxen für notwendig und steckt mit seinem Team bereits mittendrin.

©Hausärzte am Spritzenhaus Mit dem E-Lastenrad zum Hausbesuch: Klimaschutz wird bei den „Hausärzten am Spritzenhaus“ immer wichtiger. Auf dem Bild ein Teil des Ärzteteams (v.l.): Dr. Michael Seitz, Dr. Dieter Krampitz, Carolin Reu, Paul Blickle, Myriam Reger und Dr. Wolfgang von Meißner.

Mit neun Ärztinnen und Ärzten und 17 MFA ist die Praxisgemeinschaft „Hausärzte am Spritzenhaus“ eine echte Teampraxis. Abstimmungsbedarf aber auch Konfliktpotential seien wesentlich größer als in einer Einzelpraxis. Dazu komme, dass das Angebot an Medizinischen Fachangestellten aufgrund des Fachkräftemangels nicht gerade üppig sei. „Wir müssen in der Lage sein, Mitarbeitende mit ganz unterschiedlichen Charaktereigenschaften und Hintergründen im Team zu integrieren“, sagt von Meißner. Dafür berufe er und sein Team täglich um zehn Uhr ein Arbeitsfrühstück ein. Das sorge für einen kontinuierlichen Austausch und stärke gleichzeitig den Teamgedanken.

Damit es gar nicht erst zu größeren Konflikten komme, werde auch schon mal ein Profi zu Rate gezogen. „Wir haben gerade einen Coach bei uns, aber rein prophylaktisch, weil wir hier in der Praxis aktuell einen großen Wandel haben. Die Tochter unseres Senior-Praxismitbegründers kam als Ärztin ins Team der Inhaber – sie war vor dem Medizinstudium schon als MFA in der Praxis tätig. So ein Prozess und Rollenwandel kann auf verschiedenen Ebenen zu Konflikten führen. Wir möchten uns begleiten lassen, damit es gar nicht erst dazu kommt“, erzählt der Hausarzt.

Offen mit Konflikten und Fehlern umgehen

Offensiv mit Konflikten und auch mit Fehlern umzugehen sei wichtig und gehöre zum Alltag der Teampraxis. „Wir haben eine offene Fehlerkultur. Es ist gut, wenn man lernt, Kritik als kostenlose Beratung zu sehen. Wir bekommen ja auch immer wieder Kritik von Patientinnen und Patienten. Das kann sehr wertvoll sein“, sagt von Meißner. Dafür habe er mit seinen Kolleginnen und Kollegen ein System entwickelt. Verbesserungsvorschläge, Kritik oder Fehler würden in Form einer Patientenakte im Verwaltungssystem hinterlegt. Sie diene als „digitaler Kummerkasten“, in den alle Mitarbeitenden ihre Anliegen dokumentieren können. Sie würden regelmäßig vom gesamten Team gelesen, beantwortet oder bei der nächsten Sitzung besprochen.

Flexible Bürotage, Remote-Arbeitsplätze und Teilzeitangebote

Und wie sieht es mit flexiblen Arbeitszeiten und mobilem Arbeiten aus? Ist das in einer Praxis überhaupt möglich? „Wir versuchen unseren Ärztinnen, Ärzten und MFA mehr Flexibilität einzuräumen, soweit das möglich ist. Unsere MFA müssen beispielsweise im Rahmen des HZV-Vertrags telefonische Befragungen mit Patientinnen und Patienten durchführen. Das können sie sich frei einteilen. Viele machen das, wenn die Kinder abends schlafen, das ist auch für berufstätige Patientinnen und Patienten von Vorteil. Auch in Arztpraxen lässt sich einiges flexibilisieren. Gerade bürokratische Aufgaben oder auch Laborbesprechungen können von zu Hause erledigt werden“, erzählt von Meißner. Auch er habe alle 14 Tage einen flexiblen Bürotag, den er im Home-Office verbringt. Dafür hätten die Mitarbeitenden hundertprozentige Remote-Arbeitsplätze für die Kommunikation mit den Patientinnen und Patienten oder auch zum Ausdrucken der Rezepte, die dann in der Praxis landeten.

Auch dem zunehmenden Wunsch nach einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf wollen die „Hausärzte am Spritzenhaus“ nachkommen. „Wir haben viele Teilzeitlösungen – aktuell vor allem bei den Ärztinnen und Ärzten. Wir erwarten allerdings, dass alle eine Nachmittagsschicht übernehmen. Wir haben flexible Zeiten für Hausbesuche. Die kann sich jeder so einteilen, wie es am besten passt“, sagt von Meißner.

Auf Augenhöhe mit MFA

Ein weiterer wichtiger Aspekt einer modern geführten Praxis sei die Eigenverantwortung. „Wir haben als Ärztinnen und Ärzte nur definiert, welche Arbeitsplätze zu welchen Zeiten besetzt werden müssen. Wir überlassen den MFA aber selbstständig, wie sie das organisieren möchten. Wir mischen uns auch nicht in Arbeitszeiten oder Urlaubsplanungen ein. Das schätzen unsere MFA sehr. Auch bei der Einstellung einer neuen Medizinischen Fachangestellten entscheidet das MFA-Team mit. Natürlich gibt es Themen, vor allem medizinische, die können nur wir Ärztinnen und Ärzte entscheiden, weil wir die Verantwortung haben. Aber wir möchten immer auf Augenhöhe mit unseren MFA agieren“, erklärt der Gesellschafter.

Zum Teamspirit gehöre mittlerweile auch zunehmend das Du in der gegenseitigen Ansprache. Genauso wichtig seien für den Teamgedanken aber auch gemeinsame Unternehmungen. Einmal im Jahr gebe es einen Praxisausflug und jedes Jahr ein Fest zur bestandenen Prüfung des Azubis, zu einem runden Geburtstag oder Jubiläum. Die MFA machten untereinander eine Weihnachtsfeier, die Ärztinnen und Ärzte gehen im Herbst immer gemeinsam auf Fortbildung.

Klimaschutz für junge Ärztinnen und Ärzte immer wichtiger

Eine zunehmend wichtige Rolle spielten auch die Themen Nachhaltigkeit und Klimaschutz. Das sei gerade für junge Ärztinnen und Ärzte ein immer wichtigeres Kriterium bei der Suche nach einer passenden Praxis. Auch hier möchten die „Hausärzte am Spritzenhaus“ sich weiter entwickeln – hin zu einer klimafreundlichen Praxis. „Aktuell denken wir über eine Photovoltaik-Anlage für unser Dach nach. Unser Gesundheitszentrum wird über eine Geothermieanlage geheizt und gekühlt. Wir trennen konsequent von Anfang an unseren Müll. Und wir setzen in unserem Lichtkonzept auf energiesparende LED-Lampen und arbeiten von jedem Arbeitsplatz direkt auf dem Server. Das heißt, wir haben keine Computer, sondern nur die Verbindungsgeräte zum Server. Das spart viel Energie ein. Hausbesuche machen wir nach Möglichkeit mit unserem E-Auto und unserem E-Lastenfahrrad“, erzählt von Meißner. Für ihn ist klar: „Auch in Arztpraxen muss ein Kulturwandel stattfinden.“

Bei den folgenden Kommentaren handelt es sich um die Meinung einzelner änd-Mitglieder. Sie spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.

Zugang nur für Ärzte. Melden Sie sich an oder registrieren Sie sich, um die Community-Diskussion zu sehen.

Im Fokus – Fakten und Hintergründe

Neue änd-Interviewserie

Merendino: „Das alte Modell der Einzelpraxis funktioniert nicht mehr“

Aus dem Gesundheitswesen in den Bundestag: In einer Interview-Serie befragt der änd neue Mitglieder des Gesundheitsausschusses, die aus der Versorgung kommen. Stella Merendino (Linke) fordert einen stärkeren Fokus auf die Menschen im System und eine Modernisierung der ambulanten Versorgung.

Zi-Chef zum Thema Primärarztsystem

"Die Erwartungen an eine einfache Lösung sind stellenweise unrealistisch"

Ministerin Warken will ein verpflichtendes Primärarztsystem in der ambulanten medizinischen Versorgung umsetzen. Doch basiert die politische Debatte über das Thema überhaupt auf den richtigen Fakten – und sind die erwarteten Resultate wirklich erreichbar? Der änd sprach mit ZI-Chef Dr. Dominik von Stillfried über das Thema.

Cyberangriffe

KVBB warnt vor vermeintlichen Initiativbewerbungen

Ein tolles Bewerbungsschreiben einer hochqualifizierten Medizinischen Fachangestellten im Maileingang? Im Anhang könnte ein Trojaner sein, warnt der IT-Spezialist im Vorstand der Kassenärztlichen Vereinigung Brandenburg, Holger Rostek.

GOÄ

BÄK fordert Umsetzung „unverzüglich“

Die neue GOÄ liegt im Bundesgesundheitsministerium vor. Die Bundesärztekammer erwartet, dass „das notwendige Gesetzgebungs- und Verordnungsverfahren unverzüglich eingeleitet“ wird. Wie geht es nun weiter?

Primärarztsystem

KV Hessen: „Die meisten Patienten brauchen keine Steuerung“

Das geplante Primärarztsystem stößt in Hessen auf gemischte Reaktionen. Die KV zeigt sich zurückhaltend und warnt vor unnötiger Steuerung. Der Hausärzteverband sieht dagegen eine große Chance für mehr Effizienz in der Versorgung

Umfrage in Österreich

Nur 62 Prozent der Klinikärzte würden wieder Arzt werden wollen

Die Spitalsärzte in Österreich sind zunehmend unzufriedener: Nur 62 Prozent sagten in einer Umfrage, sie würden wieder den Arztberuf ergreifen, wenn sie noch einmal die Chance zur Berufswahl hätten. Die Ärztekammer Oberösterreich fordert Strukturreformen.

Gerlach

„Wir denken zu viel an den Erhalt der Strukturen“

Die KI hört das Gespräch zwischen Arzt und Patienten mit – und hat direkt danach Diagnosevorschlag, Therapiekonzept und Verordnungen erstellt. Was für manche Ärzte noch wie Zukunftsmusik klingt, ist technisch schon möglich, betont Prof. Ferdinand M. Gerlach. Allerdings sei unser Gesundheitswesen schlecht auf die künftigen Entwicklungen eingestellt.

Verbandmittelverordnungen

Werden „Patienten zu Mumien gewickelt“?

Bei der Verordnung von Verbandmitteln gibt es nach Einschätzung einer Prüfstelle viele Auffälligkeiten und großes Einsparpotenzial. Manche Patienten würden laut Verordnungsdaten regelrecht zu Mumien gewickelt, hieß es bei einem Symposium.

Prof. Karagiannidis über seinen Vorschlag zur Eigenbeteiligung:

„Keine andere Reform hätte so große Effekte“

Das Gesundheitssystem steht unter Druck, Praxen und Notaufnahmen leiden unter Bagatellfällen. Prof. Christian Karagiannidis fordert deshalb eine sozial gestaffelte Eigenbeteiligung, um Patientinnen gezielter zu steuern und Fallzahlen zu senken. Im änd-Interview erklärt er, warum keine andere Reform sich schneller umsetzen ließe und zugleich so große Effekte wie die Selbstbeteiligung hätte.

Internationaler Vergleich der Primärversorgung

Was Deutschland von anderen Ländern lernen kann

Wie organisieren andere Länder ihre Primärversorgung – und welche Ansätze könnten Deutschland bei der Debatte um die Einführung eines Primärarztsystems Orientierung geben? Ein aktuelles Scoping Review zeigt: Erfolgreiche Systeme setzen auf digitale Tools und Teamarbeit.

Aktuelle Befragung

Ausfälle von Telemedizin-Geräten stören Ablauf in Praxen und Kliniken

Ausfälle von Telemedizin- und anderen vernetzten Geräten machen Gesundheitsorganisationen in Deutschland sowie weltweit zu schaffen. Das zeigt eine aktuelle internationale Studie.

Digitale Lücke zur GKV:

PKV will bei E-Rezept und ePA bis Ende 2025 nachziehen

Während die Digitalisierung in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) in den vergangenen anderthalb Jahren zügig voranschreitet, hinkt die private Krankenversicherung (PKV) noch hinterher. Die Branche will allerdings bis Ende 2025 nachziehen.

Ärztetagbeschluss

Orthopäden dürfen Zusatzbezeichnung Geriatrie erwerben

Der Deutsche Ärztetag hat Ende Mai 2025 beschlossen, die Zusatzweiterbildung Geriatrie künftig auch für Fachärzte der Orthopädie und Unfallchirurgie zu öffnen. Bisher war diese Zusatzqualifikation ausschließlich Ärzten der Inneren Medizin, Allgemeinmedizin, Neurologie und Psychiatrie vorbehalten. Die DGG äußert sich kritisch zu diesem Beschluss.

GMK in Weimar

Länder wollen mehr Einfluss auf die Bedarfsplanung

Die Bundesländer drängen auf mehr Einfluss bei der Bedarfsplanung im ambulanten Bereich. Nach der Gesundheitsministerkonferenz in Weimar warb Nordrhein-Westfalens Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) für ein neues Rollenverständnis der Länder.

Thomas Moormann, Verbraucherzentrale Bundesverband:

„Selbstbeteiligungen sind gefährlich“

Die neue Bundesregierung will mit einem Primärarztsystem und mehr Patientensteuerung auf die Engpässe im Gesundheitswesen reagieren. Für Thomas Moormann vom Verbraucherzentrale Bundesverband greift das zu kurz. Im änd-Interview plädiert er für ein Primärversorgungssystem. Auch zum Thema Eigenbeteiligungen äußert er sich.

Umfrage zur hausärztlichen Versorgung

Jeder Vierte denkt ans Aufhören

Der Mangel an Hausärzten in Deutschland dürfte sich einer Umfrage der Bertelsmann Stiftung zufolge in den kommenden Jahren verschärfen. Demnach plant ein Viertel der Hausärztinnen und -ärzte, ihre Tätigkeit bis 2030 aufzugeben.

Kein TI-Anschluss

KZV droht mit Disziplinarverfahren

Ist die Praxis nicht an die Telematikinfrastruktur (TI) angeschlossen, kommt es bekanntermaßen zu Honorarabzügen. Einige Körperschaften bereiten sich nun aber offenbar auf die nächsten Schritte vor.

Vorschläge der DGIV

Wie kommen Projekte nach der Erprobung in die Regelversorgung?

Viele Versorgungskonzepte werden trotz erfolgreicher Erprobung nicht in die Regelversorgung überführt. Die Deutsche Gesellschaft für Integrierte Versorgung im Gesundheitswesen beklagt das. Was ihrer Ansicht nach helfen könnte, solche Konzepte zu verstetigen, hat sie jetzt in einem Papier zusammengefasst.

Entlastung für Ärzte?

Laumann will Apotheken stärken

Viele Patienten müssen immer wieder in die Praxis, um ihr Dauermedikament zu bekommen. Der NRW-Gesundheitsminister will dies ändern.

Gematik

Wie weit ist die TI 2.0?

Der Konnektor hat ausgedient – zumindest perspektivisch. Mit der TI 2.0 will die Gematik die digitale Vernetzung im Gesundheitswesen auf ein neues Fundament stellen. Das Ziel: weniger Technikstress in den Praxen, mehr Stabilität. Doch wie weit ist die Umstellung? Und was bedeutet sie für die Praxen?

Wofür steht der änd?

Mehr als 50.000 Ärzte lesen, diskutieren und teilen ihr Wissen. Kostenlos anmelden Nur für Ärzte!

Kollegenfragen - Diagnose und Behandlung

Sie brauchen einen Rat oder haben Antwort auf die Fragen eines Kollegen? Machen Sie mit

Jetzt Fragen stellen