„In Arztpraxen muss ein Kulturwandel stattfinden“
Die ganze Unternehmenswelt spricht seit einigen Jahren von New Work. Damit ist ein Wandel der Arbeitswelt durch Digitalisierung und Globalisierung gemeint, ein Transformationsprozess. Es geht dabei aber vor allem auch um ein neues Mindset: um Diversität, Sinnhaftigkeit, flexiblere Arbeitszeiten und mehr Eigenverantwortung. Aber wie sieht das neue Arbeiten eigentlich in den Arztpraxen aus? Dr. Wolfgang von Meißner ist Hausarzt und einer der Gesellschafter der Praxisgemeinschaft „Hausärzte am Spritzenhaus“ in Baiersbronn im Schwarzwald. Er hält diesen Wandel auch in Arztpraxen für notwendig und steckt mit seinem Team bereits mittendrin.

Mit neun Ärztinnen und Ärzten und 17 MFA ist die Praxisgemeinschaft „Hausärzte am Spritzenhaus“ eine echte Teampraxis. Abstimmungsbedarf aber auch Konfliktpotential seien wesentlich größer als in einer Einzelpraxis. Dazu komme, dass das Angebot an Medizinischen Fachangestellten aufgrund des Fachkräftemangels nicht gerade üppig sei. „Wir müssen in der Lage sein, Mitarbeitende mit ganz unterschiedlichen Charaktereigenschaften und Hintergründen im Team zu integrieren“, sagt von Meißner. Dafür berufe er und sein Team täglich um zehn Uhr ein Arbeitsfrühstück ein. Das sorge für einen kontinuierlichen Austausch und stärke gleichzeitig den Teamgedanken.
Damit es gar nicht erst zu größeren Konflikten komme, werde auch schon mal ein Profi zu Rate gezogen. „Wir haben gerade einen Coach bei uns, aber rein prophylaktisch, weil wir hier in der Praxis aktuell einen großen Wandel haben. Die Tochter unseres Senior-Praxismitbegründers kam als Ärztin ins Team der Inhaber – sie war vor dem Medizinstudium schon als MFA in der Praxis tätig. So ein Prozess und Rollenwandel kann auf verschiedenen Ebenen zu Konflikten führen. Wir möchten uns begleiten lassen, damit es gar nicht erst dazu kommt“, erzählt der Hausarzt.
Offen mit Konflikten und Fehlern umgehen
Offensiv mit Konflikten und auch mit Fehlern umzugehen sei wichtig und gehöre zum Alltag der Teampraxis. „Wir haben eine offene Fehlerkultur. Es ist gut, wenn man lernt, Kritik als kostenlose Beratung zu sehen. Wir bekommen ja auch immer wieder Kritik von Patientinnen und Patienten. Das kann sehr wertvoll sein“, sagt von Meißner. Dafür habe er mit seinen Kolleginnen und Kollegen ein System entwickelt. Verbesserungsvorschläge, Kritik oder Fehler würden in Form einer Patientenakte im Verwaltungssystem hinterlegt. Sie diene als „digitaler Kummerkasten“, in den alle Mitarbeitenden ihre Anliegen dokumentieren können. Sie würden regelmäßig vom gesamten Team gelesen, beantwortet oder bei der nächsten Sitzung besprochen.
Flexible Bürotage, Remote-Arbeitsplätze und Teilzeitangebote
Und wie sieht es mit flexiblen Arbeitszeiten und mobilem Arbeiten aus? Ist das in einer Praxis überhaupt möglich? „Wir versuchen unseren Ärztinnen, Ärzten und MFA mehr Flexibilität einzuräumen, soweit das möglich ist. Unsere MFA müssen beispielsweise im Rahmen des HZV-Vertrags telefonische Befragungen mit Patientinnen und Patienten durchführen. Das können sie sich frei einteilen. Viele machen das, wenn die Kinder abends schlafen, das ist auch für berufstätige Patientinnen und Patienten von Vorteil. Auch in Arztpraxen lässt sich einiges flexibilisieren. Gerade bürokratische Aufgaben oder auch Laborbesprechungen können von zu Hause erledigt werden“, erzählt von Meißner. Auch er habe alle 14 Tage einen flexiblen Bürotag, den er im Home-Office verbringt. Dafür hätten die Mitarbeitenden hundertprozentige Remote-Arbeitsplätze für die Kommunikation mit den Patientinnen und Patienten oder auch zum Ausdrucken der Rezepte, die dann in der Praxis landeten.
Auch dem zunehmenden Wunsch nach einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf wollen die „Hausärzte am Spritzenhaus“ nachkommen. „Wir haben viele Teilzeitlösungen – aktuell vor allem bei den Ärztinnen und Ärzten. Wir erwarten allerdings, dass alle eine Nachmittagsschicht übernehmen. Wir haben flexible Zeiten für Hausbesuche. Die kann sich jeder so einteilen, wie es am besten passt“, sagt von Meißner.
Auf Augenhöhe mit MFA
Ein weiterer wichtiger Aspekt einer modern geführten Praxis sei die Eigenverantwortung. „Wir haben als Ärztinnen und Ärzte nur definiert, welche Arbeitsplätze zu welchen Zeiten besetzt werden müssen. Wir überlassen den MFA aber selbstständig, wie sie das organisieren möchten. Wir mischen uns auch nicht in Arbeitszeiten oder Urlaubsplanungen ein. Das schätzen unsere MFA sehr. Auch bei der Einstellung einer neuen Medizinischen Fachangestellten entscheidet das MFA-Team mit. Natürlich gibt es Themen, vor allem medizinische, die können nur wir Ärztinnen und Ärzte entscheiden, weil wir die Verantwortung haben. Aber wir möchten immer auf Augenhöhe mit unseren MFA agieren“, erklärt der Gesellschafter.
Zum Teamspirit gehöre mittlerweile auch zunehmend das Du in der gegenseitigen Ansprache. Genauso wichtig seien für den Teamgedanken aber auch gemeinsame Unternehmungen. Einmal im Jahr gebe es einen Praxisausflug und jedes Jahr ein Fest zur bestandenen Prüfung des Azubis, zu einem runden Geburtstag oder Jubiläum. Die MFA machten untereinander eine Weihnachtsfeier, die Ärztinnen und Ärzte gehen im Herbst immer gemeinsam auf Fortbildung.
Klimaschutz für junge Ärztinnen und Ärzte immer wichtiger
Eine zunehmend wichtige Rolle spielten auch die Themen Nachhaltigkeit und Klimaschutz. Das sei gerade für junge Ärztinnen und Ärzte ein immer wichtigeres Kriterium bei der Suche nach einer passenden Praxis. Auch hier möchten die „Hausärzte am Spritzenhaus“ sich weiter entwickeln – hin zu einer klimafreundlichen Praxis. „Aktuell denken wir über eine Photovoltaik-Anlage für unser Dach nach. Unser Gesundheitszentrum wird über eine Geothermieanlage geheizt und gekühlt. Wir trennen konsequent von Anfang an unseren Müll. Und wir setzen in unserem Lichtkonzept auf energiesparende LED-Lampen und arbeiten von jedem Arbeitsplatz direkt auf dem Server. Das heißt, wir haben keine Computer, sondern nur die Verbindungsgeräte zum Server. Das spart viel Energie ein. Hausbesuche machen wir nach Möglichkeit mit unserem E-Auto und unserem E-Lastenfahrrad“, erzählt von Meißner. Für ihn ist klar: „Auch in Arztpraxen muss ein Kulturwandel stattfinden.“