Psychiater in der Jugendanstalt

Er interessiert sich für „das Böse“

Wer Arzt oder Ärztin wird, steht früher oder später vor der Entscheidung: Wie und für wen will ich arbeiten? Der änd hat mit Ärztinnen und Ärzten gesprochen, die sich nicht für eine klassische Praxis- oder Kliniktätigkeit entschieden haben – oder zumindest nicht ausschließlich. Heute: Anstaltspsychiater Uwe Meinecke.

©Jugendanstalt Hameln Uwe Meinecke ist seit fast zehn Jahren in der Jugendanstalt Hameln tätig.

Die Frage, wie viele Personen in der Jugendanstalt Hameln psychisch krank sind, ist falsch gestellt, findet Uwe Meinecke. „Leichter wäre die Frage zu beantworten: Wie viele sind es nicht?“, sagt er im Gespräch mit dem änd. Denn gesund sei kaum einer von ihnen.

Meinecke ist Psychiater. Und zwar nicht irgendeiner. Er leitet die psychiatrische Station der Einrichtung in der niedersächsischen Stadt rund 50 Kilometer vor Hannover. Dort hat er mit den jungen Straftätern alle Hände voll zu tun – denn die meisten sind psychisch krank. Sie leiden unter Panikattacken, dem fetalen Alkoholsyndrom, ADHS, Posttraumatischen Belastungsstörungen, Schizophrenie. Sie brauchen Unterstützung, die einen mehr, die anderen weniger.

Wer in der Jugendanstalt Hameln landet, hat gestohlen, betrogen oder erpresst. Oder gar vergewaltigt oder gemordet. Die Einrichtung ist die größte in Deutschland und hat insgesamt Platz für rund 650 männliche Jugendliche. Aktuell sind rund 400 Menschen aus rund 70 Nationen inhaftiert.

Was sie gemein haben, erzählt Meinecke, ist, dass sie nicht schlafen können. Sie schlafen nicht ob der ungewohnten Umgebung, ob der harten Matratzen, ob des Geräuschpegels oder ob der Probleme, die das Zusammenleben in Gefangenschaft mit sich bringt.

Oder ob der Taten, die sie begangen haben. Ein Gefangener hat sein eigenes Kind totgeschlagen und glaubt, nachts die Schreie des Babys zu hören, er ist traumatisiert. Und immer wieder suizidal. Leute wie er kommen auf Meineckes Station, die 20 Betten vorhält, drei Zimmer haben Kameraüberwachung. Er sieht die Gefangenen zur Visite, doch er verschreibt ihnen nicht nur Medikamente. Er geht auch mit ihnen spazieren, macht mit ihnen Sport. Das alles ist Teil der Therapie. Es mache für die Jugendlichen „viel aus“, dass sich der Arzt selbst eine Sporthose anzieht, so wie sie. Aber es ist für ihn auch diagnostisch interessant, beispielsweise erkenne er schnell, wer unter ADHS leidet, weil sich die Betroffenen nie lang mit einer Übung aufhielten.

„Ich habe ein menschliches Interesse daran, wie jemand so etwas machen kann“

Der Umgang sei mitunter schwierig, viele der Jugendlichen seien aggressiv, auch untereinander. Schon in diesem jungen Alter bauen die Gefangenen ihre eigene Hierarchie auf: Wer Kindern etwas angetan hat, steht unten, „der muss aus Sicht der anderen einen draufkriegen“. Weil die Aggression auch die Mitarbeitenden trifft, gibt es in den Räumen immer mehrere Fluchtwege, allein ist man mit den Patienten auch nicht. Außerdem trägt jeder ein sogenanntes Personennotsignalgerät, eine Art Funkgerät, am Körper, mit dem er nach Unterstützung rufen kann.

Wie hält man es aus, mit Straftätern zu arbeiten, die nicht nur aggressiv sind, sondern im schlimmsten Fall jemanden umgebracht haben? Für Meinecke ist der Blickwinkel entscheidend. Man könne einfach auf die Tat schauen und sie verurteilen, sagt er. Oder man nähert sich ihr wissenschaftlich und mit Blick in die Zukunft. „Ich habe ein menschliches Interesse daran, wie jemand so etwas machen kann“, so Meinecke. Und er stelle sich die Frage, wie sich ein Täter weiterentwickeln könne. Wie er mit dem, was er getan hat, weiterleben kann. Und wie sich verhindern lässt, dass er seine Taten wiederholt.

Seit fast zehn Jahren arbeitet der Arzt, der eigentlich in Dortmund lebt, unter der Woche in Hameln. Doch „hinter Mauern“, wie er es nennt, ist er bereits seit 1999. Er sei zufällig in die forensische Psychiatrie gerutscht und fand die Arbeit „total spannend“. Er habe einen Patienten gehabt, der mehrere Frauen ermordet hatte, und in den jeder andere Arzt die Hoffnung bereits verloren hatte. Ein Serientäter. Ihn reizte die Auseinandersetzung „mit dem Bösen“.

©cosmic neural/stock.adobe.com Ärztinnen und Ärzte, die in Gefängnissen arbeiten, müssen aus Sicht von Meinecke dazu in der Lage sein, sich in einen großen Organismus einzufügen.

Als sich Meinecke 2016 dazu entschied, in der Anstalt zu arbeiten, war es die erste Einrichtung im Bundesland, die eine psychiatrische Abteilung plante. Und in dieser Abteilung haben die Mitarbeitenden aus Sicht des Psychiaters viele Möglichkeiten, die Gefangenen zu unterstützen, eine „therapeutische Atmosphäre“ aufzubauen und den jungen Gefangenen ein familiäres Miteinander zu vermitteln. Für gewöhnlich halten niedergelassene Psychiater nur einmal in der Woche eine Sprechstunde in Anstalten ab.

Das Konzept der Einrichtung überzeugt Meinecke. "Meine persönliche Meinung ist: Wenn man strafen will um der Sühne Willen, dann ist das Altes Testament.“ Gefängnisse müssten Lern-Orte sein, in denen sich Gefangene weiterentwickeln können. In Hameln seien die Jugendlichen verpflichtet zu arbeiten, eine Ausbildung oder einen Schulabschluss zu absolvieren. Insgesamt könnten sie sich aus 30 Berufen einen aussuchen. In diesem „Dorf“, wie Meinecke das Gefängnis nennt, gebe es einen großen Marktplatz, einen Frisör, eine Kfz-Werkstatt.

Meinecke empfindet es als schwierig, sich mit allen Beteiligten auf ein geeignetes Vorgehen für Insassen zu einigen. Zum Beispiel gibt es den Fall eines Häftlings, der sich bei Stress immer ins Bein schneidet. Da die Psychiatrie Videoüberwachung hat, verlegt man ihn dorthin. Und er will auch unbedingt dortbleiben. Warum, das stellt sich erst nach einigen Gesprächen raus: Er hat Tabakschulden und traut sich nicht mehr unter die anderen Insassen. Und in die psychiatrische Abteilung kommt keiner rein, der nicht dort aufgenommen wurde. Meinecke nimmt ihn auf – aber nur unter der Bedingung, dass er arbeiten geht, obwohl er Angst hat, auf die anderen Gefangenen zu treffen. „Er muss ja mit den Folgen seiner Taten leben.“ Aber auch das bedarf einer Abstimmung. „Jeder Mitarbeiter hat eine andere Vorstellung davon, was gut ist.“ Einen gemeinsamen Nenner zu finden, sei schwierig. Weitere Besprechungen seien nötig, wenn beispielsweise Disziplinarmaßnahmen angeordnet werden müssten: Dafür sei sein Vollzugsabteilungsleiter zuständig.

„90 Prozent der Arbeit machen mir Spaß“

Und sowieso wird viel miteinander gesprochen: In Konferenzen besprechen die Mitarbeitenden, welche Patienten aufgenommen oder entlassen werden. Auch bei der Übergabe – neben Meinecke ist eine Psychiaterin in der Einrichtung tätig – spreche man über die Patienten. Einmal in der Woche tauscht sich die psychiatrische mit der medizinischen Abteilung aus. Bei der Anstaltsabteilungskonferenz erfahren sie darüber hinaus beispielsweise von neuen Regeln für die Anstalt.

Um als Arzt im Gefängnis tätig zu sein, „muss man erstmal ein guter Arzt sein“, sagt Meinecke. Doch man muss auch in der Lage sein, sich in einen großen Organismus einzufügen und nicht der Chef von allem zu sein. „Wenn von oben was nicht gewollt ist, wenn die Leitung oder das Ministerium nicht will, dann kann man nichts machen.“ Doch er selbst habe für sich viel Gestaltungsspielraum und das Gefühl, „die Anstalt freut sich, dass es eine psychiatrische Abteilung gibt, in die schwierige Patienten kommen“. In anderen Gefängnissen sei es weit schwieriger, das Arztsein mit den Sicherheitsvorkehrungen unter einen Hut zu bringen.

Meinecke hat bislang keinen Grund gefunden, warum er diese Arbeit beenden sollte, erzählt er. „Ich hätte woanders mehr verdienen können, aber dann hätte ich viel mehr Papierkram und Arbeit, die mir keinen Spaß macht.“ Sein Gehalt orientiere sich am Tarifvertrag des Marburger Bundes, er erhalte ein Oberarztgehalt – allerdings absolviere er weder Nacht- noch Wochenenddienste. Dadurch habe er auch mehr Freizeit. „90 Prozent der Arbeit machen mir Spaß“, sagt er, er könne sie mit den Patienten und Mitarbeitenden verbringen statt mit Computern und Formularen.

Uwe Meinecke ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Leitender Psychiater der Jugendanstalt Hameln.

Die Einrichtung hat Platz für insgesamt 655 männliche Jugendliche und hält 580 Haftplätze für den geschlossenen Vollzug sowie 75 für den offenen Vollzug in Göttingen vor. Aktuell sind rund 400 Menschen aus rund 70 Nationen inhaftiert.

Bei den folgenden Kommentaren handelt es sich um die Meinung einzelner änd-Mitglieder. Sie spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.

Zugang nur für Ärzte. Melden Sie sich an oder registrieren Sie sich, um die Community-Diskussion zu sehen.

Im Fokus – Fakten und Hintergründe

Neu

Austauschforum zur ePA-Technik für Ärztinnen und Ärzte

Von Kollegen weitergegebene Tipps und Tricks sind oft Gold wert: Ab sofort bietet der änd ein neues Unterforum speziell für die elektronische Patientenakte (ePA) an. Hier können sich Niedergelassene praxisnah über ihre Erfahrungen austauschen und sich gegenseitig bei der Umsetzung und Nutzung unterstützen.

Erfahrungen mit der ePA

"Auf dem freien Markt würde man für solch eine Performance kein Geld bezahlen“

Ab dem 1. Oktober 2025 wird die Nutzung der elektronischen Patientenakte (ePA) für die Praxen bekanntermaßen verpflichtend – in den Testregionen sammeln Niedergelassene aber schon seit Jahresbeginn Erfahrungen mit den Systemen. In der Testregion Hamburg dabei: Dr. Mike Müller-Glamann, der ein Zwischenfazit für den änd zieht.

Zi warnt vor Engpässen

2030 fehlen bis zu 425 Nephrologen

Bis 2030 scheidet altersbedingt fast jeder dritte Nephrologe aus der Versorgung aus. Nachfolger fehlen. Zugleich steigt die Nachfrage nach nephrologischer Versorgung. Das Zi warnt vor einer Verschlechterung der Versorgung.

Patientenbeauftragter Schwartze

„Eine Bürger­versicherung würde allen gleichermaßen helfen“

Eine Bürgerversicherung würde zahlreiche Probleme im Gesundheitssystem lösen, meint der Patientenbeauftragte Stefan Schwartze (SPD). Unter anderem würden Terminprobleme gelöst und der Verkauf „schädlicher“ IGeL gestoppt, glaubt er.

Zi-Trendreport

Zahl der Videosprechstunden deutlich gestiegen

Die Niedergelassenen haben im vergangenen Jahr etwas mehr Patientinnen und Patienten in ihren Praxen behandelt als im Vorjahr. Das zeigt der neue Zi-Trendreport. Vor allem bei den telefonischen Beratungen und Videosprechstunden gab es demnach starke Zuwächse.

Ärzte unter Dauerstrom

Erholung im ärztlichen Alltag eher seltene Ausnahme

Urlaub, Pausen, Selbstfürsorge: Wie steht es um die Erholung niedergelassener Ärztinnen und Ärzte in Deutschland? Der änd hat nachgefragt – rund 700 Ärztinnen und Ärzte gaben Antworten – darunter klare Signale: Der ärztliche Alltag ist geprägt von hohem Arbeitspensum, geringer Erholungsfrequenz und enormer systemischer Belastung.

Schreyögg

„Die Frage der Endbudgetierung wird sich mehr oder weniger erledigen“

Eine digitale Überweisung, in der ausführlicher als bisher der Grund der Überweisung angegeben wird – das sollte laut Prof. Jonas Schreyögg, stellvertretender Vorsitzender im Sachverständigenrat Gesundheit & Pflege (SVR), zu einem künftigen Primärarztsystem unbedingt dazu gehören.

DEGAM-Vize

"Diese Art der Überversorgung verstopft Praxen"

Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) fordert ein Primärarztsystem ohne Kompromisse – und sieht in den Praxen auch viele überflüssige Leistungen, die gestrichen werden könnten.

Barrierefreiheit wird Pflicht

Praxen müssen Webseiten prüfen

Am 28. Juni 2025 ist das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) in Kraft getreten – auch für Arztpraxen kann das Konsequenzen haben. Künftig müssen Praxis-Webseiten unter bestimmten Voraussetzungen barrierefrei gestaltet sein.

MEDI-Umfrage zur Gewalt in den Praxen

"Frustration und Gewalt sind zu unserem Alltag geworden"

Beschimpfungen, Drohungen, körperliche Übergriff: Eine aktuelle Mitgliederumfrage des Ärzteverbands MEDI zeigt erschreckend deutlich, wie weitverbreitet die Gewalt gegenüber medizinischem Personal mittlerweile ist. Der änd sprach mit dem MEDI-Vorsitzenden Dr. Norbert Smetak über die Ergebnisse der Umfrage, die Gründe für die zunehmende Aggression und mögliche politische Konsequenzen.

116117

Drittanbieter können ab sofort Präsenztermine aus dem TSS-Pool vermitteln

Drittanbieter, wie Krankenkassen, Unternehmen oder gemeinnützigen Organisationen, können ab sofort Behandlungstermine in Präsenz aus dem Terminpool der 116117 über eigene Portale oder Apps anbieten. Das gab die Kassenärztliche Bundesvereinigung am Dienstag bekannt.

Interview

„Wir müssen wieder positiver über die Niederlassung reden“

Dr. Stephan Pilsinger (CSU) sitzt als Bundestagsabgeordneter im Gesundheitsausschuss. Der änd hat mit dem Arzt darüber gesprochen, was die neue Regierung in der Gesundheitspolitik anpacken will - aber auch darüber, was sich in Ärzteschaft und Gesellschaft ändern sollte.

Umfrage

Viele bereit zu Zugeständnissen für schnellere Arzttermine

Um schneller an Termine bei Fachärztinnen und Fachärzten zu kommen, wären viele Versicherte auch zu Zugeständnissen bereit. Das ergab eine Umfrage des Vergleichsportals Verivox.

Medienbericht

Ärzte melden zu wenig Termine an 116117

Die Ärztinnen und Ärzte in Baden-Württemberg melden viel zu wenig Termine an die Terminservicestelle. Das zumindest wird ihnen in einem Bericht des „SWR“ vorgeworfen.

Von Einzelpraxis zum Großversorger

„Ich war zu naiv und musste lernen, wirtschaftlich zu denken“

2009 übernimmt Dr. Tim Knoop voller Idealismus die Einzelpraxis seiner Mutter in Köln-Nippes. Fünfzehn Jahre später führt er eine Großpraxis mit über 40.000 GKV-Fällen. Doch wirtschaftlich steht er seit Jahren unter Druck. Denn allein mit GKV-Erlösen lassen sich solche Strukturen längst nicht mehr finanzieren.

Neue änd-Interviewserie

Merendino: „Das alte Modell der Einzelpraxis funktioniert nicht mehr“

Aus dem Gesundheitswesen in den Bundestag: In einer Interview-Serie befragt der änd neue Mitglieder des Gesundheitsausschusses, die aus der Versorgung kommen. Stella Merendino (Linke) fordert einen stärkeren Fokus auf die Menschen im System und eine Modernisierung der ambulanten Versorgung.

Zi-Chef zum Thema Primärarztsystem

"Die Erwartungen an eine einfache Lösung sind stellenweise unrealistisch"

Ministerin Warken will ein verpflichtendes Primärarztsystem in der ambulanten medizinischen Versorgung umsetzen. Doch basiert die politische Debatte über das Thema überhaupt auf den richtigen Fakten – und sind die erwarteten Resultate wirklich erreichbar? Der änd sprach mit ZI-Chef Dr. Dominik von Stillfried über das Thema.

Cyberangriffe

KVBB warnt vor vermeintlichen Initiativbewerbungen

Ein tolles Bewerbungsschreiben einer hochqualifizierten Medizinischen Fachangestellten im Maileingang? Im Anhang könnte ein Trojaner sein, warnt der IT-Spezialist im Vorstand der Kassenärztlichen Vereinigung Brandenburg, Holger Rostek.

GOÄ

BÄK fordert Umsetzung „unverzüglich“

Die neue GOÄ liegt im Bundesgesundheitsministerium vor. Die Bundesärztekammer erwartet, dass „das notwendige Gesetzgebungs- und Verordnungsverfahren unverzüglich eingeleitet“ wird. Wie geht es nun weiter?

Primärarztsystem

KV Hessen: „Die meisten Patienten brauchen keine Steuerung“

Das geplante Primärarztsystem stößt in Hessen auf gemischte Reaktionen. Die KV zeigt sich zurückhaltend und warnt vor unnötiger Steuerung. Der Hausärzteverband sieht dagegen eine große Chance für mehr Effizienz in der Versorgung

Wofür steht der änd?

Mehr als 50.000 Ärzte lesen, diskutieren und teilen ihr Wissen. Kostenlos anmelden Nur für Ärzte!

Kollegenfragen - Diagnose und Behandlung

Sie brauchen einen Rat oder haben Antwort auf die Fragen eines Kollegen? Machen Sie mit

Jetzt Fragen stellen