Neue Studie

„Misshandlung in der Geburtshilfe ist ein Problem in Europa“

Respektloses Verhalten, Objektifizierung, verbale und körperliche Misshandlungen: Frauen, die in Europa gebären, beschreiben respektloses Verhalten und Misshandlung während der Geburt. Eine aktuelle Studie belegt die persönlichen Aussagen mit konkreten Zahlen.

©kieferpix/stock.adobe.com Im Jahr 2021 wurden in Deutschland etwa 799.000 Kinder in Krankenhäusern geboren. Während der Covid-Pandemie waren die verschärften Arbeitsbedingungen ein Faktor, der zu den negativen Erlebnissen beitrug (Symbolbild).

Nicht selten werden eine Geburt und der Beginn der Mutterschaft von Frauen durch Erfahrungen von Respektlosigkeit und schlechter medizinischer Behandlung bis hin zu Misshandlung begleitet. Dabei hat die WHO ein positives Geburtserlebnis als zentrales Ziel für gebärende Frauen definiert. 

Respektlosigkeit und Misshandlung während der Geburt umfassen ein breites Spektrum an Verhaltensweisen wie Beleidigungen, Eingriffe ohne Aufklärung und Einverständnis, Vernachlässigung und Verletzungen der Privatsphäre bzw. Autonomie.

Eine Studie, veröffentlicht im Fachjournal International Journal of Gynecology & Obstetrics, beschäftigte sich mit der Häufigkeit derartiger Erlebnisse bei Frauen und fand je nach Region eine unterschiedlich hohe Anzahl an teilweise traumatisierenden Erlebnissen. Die Untersuchung wurde im Rahmen der IMAgiNE EURO-Studie („Improving Maternal Newborn Care in the WHO European Region During COVID-19 Pandemic“) durchgeführt, die die Qualität der Versorgung von Müttern und Neugeborenen während der COVID-19-Pandemie (März 2020–Mai 2023) analysierte. Eingeschlossen wurden Frauen ab 18 Jahren, die in Einrichtungen der WHO-Europaregion entbunden hatten und freiwillig einen validierten Online-Fragebogen zu ihren Geburtserfahrungen ausfüllten.

Rate an missbräuchlichem Verhalten in Deutschland 14,1 Prozent

Insgesamt nahmen 50.617 Frauen aus 22 Ländern teil. Der Großteil der Frauen war zwischen 25 und 35 Jahre alt, 69,3 Prozent der Befragten hatten einen universitären Abschluss. Von den Frauen berichteten 7.683 (15,2 Prozent) von Erfahrungen, die als Misshandlung einzuordnen sind. Die Prävalenz variierte erheblich zwischen den Ländern: von 6,4 Prozent in Israel, über 9,6 Prozent in der Schweiz bis zu 30,7 Prozent in Bosnien-Herzegowina. In Deutschland lag die Rate bei 14,1 Prozent.

Am häufigsten wurde über

  • emotionales Fehlverhalten berichtet (10,3 Prozent),
  • gefolgt von verbaler (7,3 Prozent)
  • und körperlicher Misshandlung (2,4 Prozent).
  • Die Rate an körperlichen Misshandlungen war am höchsten in Portugal (9,1 Prozent), am niedrigsten in Norwegen und Polen (0,6 und 0.9 Prozent).

Die qualitative Analyse (737 Antworten) verdeutlichte, dass Frauen häufig eine Abfolge von Handlungen als respektlos und übergriffig empfanden, die kumulativ das Gefühl hervorriefen, entmenschlicht und wie ein „Objekt“ behandelt worden zu sein. Typische Defizite betrafen mangelhafte Kommunikation, fehlende Einbindung in Entscheidungen, grobe Behandlung bei Prozeduren sowie unzureichende Umsetzung evidenzbasierter Praktiken.

Gefühl von Entmenschlichung und mangelnde Kommunikation

In freien Textabschnitten konnten die Befragten ihre Erfahrungen niederschreiben. Einige der Frauen berichteten beispielsweise von vaginalen Untersuchungen oder Geburtseinleitungen ohne Einwilligung oder Aufklärung. 

„Ich wurde ohne Vorwarnung einer Lösung der Fruchtblase unterzogen. Es wurde zusammen mit einer routinemäßigen vaginalen Untersuchung gemacht, mit einem mündlichen Kommentar: ‚Ja, ich weiß, das tut weh, aber jetzt nur noch eine Minute.‘“ (Norwegen)

Eine Frau aus Deutschland beschrieb, sie sei ohne schmerzstillende Betäubung nach einer Episiotomie genäht worden. Außerdem berichteten Frauen, dass sie im Kreißsaal sehr lange alleine gelassen wurden. Auch grobe Prozeduren, beispielsweise bei der vaginalen Untersuchung, scheinen keine Seltenheit zu sein. Eine Frau aus Kroatien schrieb:

„Die Gynäkologin führte bei der Ankunft im Krankenhaus eine extrem grobe vaginale Untersuchung durch. Sie drückte ihre Hand ohne Ankündigung grob in den Geburtskanal, drückte meinen Bauch grob, um abzuschätzen, wo der Kopf des Kindes war.“ (Kroatien).

Andere erzählten, die Pflegerinnen hätten ihre Brüste zum Zweck des Milcheinschusses grob „gezogen und gequetscht“, ohne Vorwarnung. 

Eine Frau aus Kroatien berichtete von ihrem Kaiserschnitt so:

„Sie haben nicht einmal darauf gewartet, dass die Spinalanästhesie wirkte. Sie führten einen Kaiserschnitt durch, und ich spürte alles, vom Schnitt bis zum Nähen. Sie rissen das Kind aus mir heraus... Während sie das Kind herausnahmen, machten sie sich sogar über mich lustig, wie ich eine natürliche Geburt überleben wollte? Ich bewegte meine Beine, sagte ihnen, dass ich alles fühlen konnte, aber sie machten weiter.“ (Kroatien)

Eine Frau aus Bosnien-Herzegowina sagte aus, es sei über ihre Sorgen gelacht worden, eine andere hörte den Arzt oder die Ärztin (keine konkrete Angabe) über ihr Körpergewicht sagen, sie sein ein Wal. 

Auffallend häufig Prozeduren ohne Einwilligung

Auffällig in der Zusammenschau ist, dass negative Erfahrungen meist aus einer Abfolge von Ereignissen resultierten und selten auf einen einzelnen Vorfall beschränkt waren. Ein wesentlicher Befund betrifft routinemäßige Krankenhauspraktiken: Diese werden häufig protokollgetreu, über-medikalisiert und nicht immer evidenzbasiert durchgeführt - oftmals ohne ausreichende Information oder Einwilligung der Patientinnen. Besondere Defizite zeigten sich auch in der Kommunikation: Entscheidungen über Interventionen wurden häufig ausschließlich im Kreis der Behandelnden getroffen, ohne die Frauen einzubeziehen. Dies betraf insbesondere invasive Maßnahmen wie vaginale Untersuchungen, Episiotomien oder operative Geburtsinterventionen, die vielfach ohne vorherige Information oder Zustimmung durchgeführt wurden.

Ursachen sind am ehesten struktureller Natur, Folgen langfristig

Als Ursache für die beschriebenen Verhaltensweisen können hohe Arbeitsbelastung, Personalmangel sowie unzureichende Schulung und Supervision sein. Alles Faktoren, die sich während der Covid19-Pandemie noch verschärften, jedoch strukturell auch unabhängig von der Pandemie in mehreren europäischen Ländern bestehen. 

Die Folgen derartiger Erlebnisse sind langwierig und betreffen sowohl die psychische als auch die physische Gesundheit der Frauen, denn häufig ist das Vertrauen in das Gesundheitssystem beeinträchtigt. Außerdem können Depressionen, Ängste, Schwierigkeiten beim Stillen und Störungen der Mutter-Kind-Bindung die Folge sein.

Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass Respektlosigkeit und Misshandlung in der Geburtshilfe ein strukturelles Problem in der WHO-Europaregion darstelle, das unabhängig von der Pandemie bestehe und auch in der Postpandemiezeit systematisch untersucht werden müsse, fassen die Autorinnen und Autoren ihre Ergebnisse zusammen. 

 

Originalpublikation:
Anna Galle, Helga Berghman, Ilaria Mariani, Maria Verdecchia, Arianna Bomben, Eline Skirnisdottir Vik, Daniela Drandic, Elizabete Pumpure, Raquel Costa, Helen Elden, Céline Miani Experiences of disrespect and abuse during childbirth in the World Health Organization European region: A mixed-method study among 22 countries, First published: 08 September 2025
https://doi.org/10.1002/ijgo.70516

 

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