„Post-COVID ist ganz klar eine psychosomatische Erkrankung“
Der Bund investiert 500 Millionen Euro in die Erforschung von postinfektiösen Erkrankungen und ME/CFS. Dies wurde in der vergangenen Woche bekannt gegeben. „Eine absolute Fehlallokation von Mitteln! Gerade in Zeiten massiv knapper Kassen, gekürzter Budgets für Universitäten und öffentliche Fördereinrichtungen“, wertet Prof. Christoph Kleinschnitz von der Universität Essen diesen Schritt.
©Andre Zelck
Prof. Kleinschnitz wird in sozialen Medien massiv für seine Aussagen bezüglich Post-COVID kritisiert. Er halte das aus, sagt er. Schlussendlich gehe es ihm darum, den Betroffenen zu helfen. Die psychosomatischen Diagnosen müssten entstigmatisiert werden.
Es sei viel wichtiger, die Erkrankung als psychosomatisch anzuerkennen und die Therapie in dieser Richtung zu stärken – das sei schon lange überfällig, findet der Direktor der Klinik für Neurologie an der Universitätsklinik Essen.
Er gilt als Experte für COVID-19, und auch die Erforschung von Long-COVID - wie es im allgemein üblichen Sprachgebrauch genannt wird – hat er sich auf die Fahne geschrieben.
„Als die Pandemie begann, waren wir in Essen das zweitgrößte Akut-COVID-Zentrum“, erzählt der Neurologe dem änd. Er berichtet, dass sie dadurch viel Erfahrung sammeln konnten und schnell gemerkt hätten: „Es gibt einen gewissen Prozentsatz an Patientinnen und Patienten, die nach der akuten Erkrankung eine umfassende Nachsorge brauchen.“ Diese Nachsorge betraf nicht nur die neurologischen Symptome, sondern die Betroffenen mussten auch kardiologisch, internistisch, pulmologisch und psychiatrisch betreut werden. Die ersten Long-COVID-Fälle wurden bekannt und die mediale Aufmerksamkeit wuchs.
Der Begriff Long-COVID bedeutet eigentlich in der medizinischen Terminologie: Die Symptome von COVID-19 bestehen auch nach der akuten Phase von vier Wochen weiter oder kehren zurück, insgesamt bis zu einer Dauer von 12 Wochen. Alle Symptome danach, egal ob sie weiter bestehen, wiederkehren oder neu aufgetreten sind, nennt man Post-COVID.
Um Long- und Post-COVID entsprechend behandeln zu können, gründeten mehrere große Kliniken Long-COVID-Ambulanzen – auch das Team von Prof. Kleinschnitz eröffnete eine solche Anlaufstelle für die Betroffenen, deren Symptome damals noch nicht vollständig einzuordnen waren. „Damals hatten wir die Ambulanz noch gar nicht ‚Long-COVID-Ambulanz‘ genannt“, berichtet Kleinschnitz. Es sei einfach nur klar gewesen, dass die Betroffenen Hilfe brauchten. Aufgeteilt wurde die Ambulanz auf zwei Abteilungen: Beteiligt waren die Infektiologie für alles Internistische, und die Neurologie, die sich eher um die neuropsychiatrischen Symptome kümmerte.
„Keine organischen Befunde“
Über die Jahre haben Prof. Kleinschnitz und sein Team viele tausende Patientinnen und Patienten gesehen, die sich wegen Long- oder Post-COVID vorgestellt haben. Organische Befunde seien in all den Jahren nicht gefunden worden. „Wir haben über die Jahre viele Patientinnen und Patienten gesehen, wir haben das Kollektiv charakterisiert, wir haben Studien zu dem Thema gemacht“, erzählt er, „auch in Zusammenarbeit mit der Psychosomatik. Was sich für uns relativ schnell darstellte, war, dass wir für die neurologischen Beschwerden wie Fatigue, Konzentrationsstörungen, generalisierte Schmerzen und Brainfog keine organischen Befunde erheben können.“ Und wenn es doch mal Organauffälligkeiten gab, dann litten die Betroffenen gar nicht an Post-COVID, sondern an einer ganz anderen Erkrankung, etwa einer Multiplen Sklerose oder einer Polyneuropathie, betont Kleinschnitz.
Auch Blutuntersuchungen, die Liquorpunktion, oder bildgebende Verfahren wie MRT oder auch die Elektrophysiologie erbrachten keine Erklärungen für die mannigfaltigen Symptome von Post-COVID. Was sich aber immer mehr herauskristallisiert habe, insbesondere durch eine enge Zusammenarbeit mit der Psychosomatik, sei, „dass es viele Anzeichen einer klassischen funktionell-psychosomatischen Störung gibt.“
Die Patientenkohorte, die in seiner Ambulanz erschien, war hochselektiert. Wer unter kardiologischen oder pulmologischen Symptomen litt, wurde in dem entsprechenden Fachbereich betreut. Doch auch hier, betont Kleinschnitz, seien die organischen Befunde meistens unauffällig gewesen. Natürlich habe man hier und da mal eine Myokarditis festgestellt - nach COVID-19 oder auch nach der Impfung –, aber „in der Regel fanden die Internisten auch nichts“.
Problematisch sei, dass es keine gut definierten Diagnosekriterien gebe. Mit der Folge, dass „alles, was nach einer COVID-Erkrankung passiert ist, irgendwie als Post-COVID subsumiert wurde.“
Der Andrang auf die Ambulanz habe inzwischen nachgelassen, berichtet der Neurologe. Dank Omikron – „Das war der Gamechanger“, sagt er. Das Auftreten dieser Variante plus die Impfung habe viel bewegt und die Akutbelastung der Krankenhäuser deutlich reduziert. Und mit den Krankheitsfällen gingen auch die Fälle von Long- bzw. Post-COVID zurück.
Vermischung mit ME/CFS
Verfolgt man die politische Debatte um Long-COVID und dessen Darstellung vor allem in sozialen Medien, wird deutlich, dass es inzwischen eine Art Vermischung von Post-COVID mit ME/CFS gegeben hat und die Erkrankungen häufig in einem Atemzug genannt werden. Die Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatiguesyndrom rückte in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus der Öffentlichkeit: Viele, schwerst betroffene Personen, die pflegebedürftig und abgeschottet von der Außenwelt aufgrund ihrer Symptome nicht mehr am Leben teilnehmen können, haben ihre Geschichten über Social Media geteilt und eine große Gemeinschaft gebildet.
Die Erkrankung ist komplex und wird von Fachleuten uneinheitlich eingeschätzt. Die einen bewerten sie als deutlich unterdiagnostiziert und sehen noch nicht erforschte organische Störungen als Ursache an, wohingegen andere ME/CFS als primär somatisch bedingte Erkrankung infrage stellen.
Die DGN bezieht Stellung – ein „Shirtstorm“ war die Folge
Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) äußerte sich im Juli dieses Jahres in einer Stellungnahme zu dem Thema und machte vorsichtig ihre Skepsis deutlich: Man habe in den letzten fünf Jahrzehnten keine Biomarker in Blut, Liquor oder in bildgebenden Verfahren ausmachen können. Zudem sei das Krankheitsbild sehr vielgestaltig und schwer einzugrenzen, es überlappe mit zahlreichen Erkrankungsphänomenen aus einigen anderen Fachbereichen, beispielsweise aus der Rheumatologie, der Psychiatrie und der Psychosomatik. Zudem existiere bislang kein Nachweis einer wirksamen Behandlung.
„ME/CFS wurde im Laufe der Zeit ohne hinreichende Evidenz einfach als schwerste Form von Long-COVID gelabelt“, greift auch Kleinschutz das Thema auf und kritisiert den medialen Umgang mit der Krankheit - mit sehr aktiven Selbsthilfegruppen und einigen prominenten ärztlichen Interessenvertretern, die außergewöhnlich aggressive und laute Lobbyarbeit betrieben, und gegen die Politikerinnen und Politiker kaum eine Chance hätten.
Auch die Stellungnahme der DGN habe schließlich einen „Shitstorm sondergleichen“ ausgelöst. Die Empörung sei enorm, die Bubble sei sehr aggressiv. „Das Geld reicht nie, es wird immer Versagen vorgeworfen. Jeder einzelne Bundestagsabgeordnete ist vor den Wahlen durch die ME/CFS-Verbände angeschrieben worden, was die Krankheit betreffend im Koalitionsvertrag stehen soll.“ Das hätte es noch nie gegeben, dass es eine Krankheit in den Koalitionsvertrag schafft, wundert sich der Neurologe. Manche Politiker erzählten ihm in persönlichen Gesprächen, so Kleinschnitz, sie seien einem massiven Druck ausgesetzt gewesen, dem sie dann irgendwann politisch nachgegeben hätten.
Fachgesellschaft ohne klare Position
Inzwischen sinke aber die Bereitschaft der Politik sehr deutlich, sich für ME/CFS einzusetzen, und um das Thema sei es insgesamt ruhiger geworden: „Es handelt sich um eine Hardcore-Bubble und ein paar Verbände, die das Thema sehr vorantreiben.“ Dabei seien Selbsthilfegruppen und Lobbyarbeit durchaus legitim, aber die Vorgehensweise sei bedrohlich geworden, weswegen sich auch Politiker und Fachgesellschaften zurückgezogen hätten.
Auch die DGN habe bei dem Thema keinen guten Eindruck gemacht. Die oben zitierte Stellungnahme sei erst veröffentlicht worden, als ein tragischer, wahrscheinlich assistierter Suizid einer jungen Frau durch die sozialen Medien ging. Sie habe, so der Neurologe, offensichtlich massive psychische Probleme gehabt, wurde aber in ihrer „Bubble“ immer wieder in der Richtung einer ME/CFS-Diagnose unterstützt.
Lazarus-Effekt? Bereicherung auf Kosten der Betroffenen
Tragisch findet der Neurologe auch, dass sich sogar Kolleginnen und Kollegen auf Kosten der Betroffenen, die einen hohen Leidensdruck haben, bereichern würden. Auch die Stellungnahme der DGN warnt vor nicht-evidenzbasierten Verfahren, die „wie Pilze aus dem Boden schießen“. Vielmehr sollten Ärztinnen und Ärzte, so Kleinschnitz, ihrer Aufgabe gerecht werden und die Betroffenen über die Krankheit aufklären - dass sie eben keine organische Ursache habe, sondern eine psychosomatische Störung die Ursache sei. „Es ist ja am Ende egal, warum es den Menschen schlecht geht, ob organisch oder nicht. Fakt ist: Sie sind krank, sie leiden und ihnen muss geholfen werden!“
Man tue den Betroffenen keinen Gefallen, wenn man ihnen nach dem Mund rede, sagt er. Die Sehnsucht, dass man Post-COVID oder ME/CFS mit einer Tablette heilen könne, sei verständlich. Aber dadurch passiere auch viel Falsches. „Die Ärzte müssen es aussprechen!“, fordert er.
Stattdessen hätten sich manche Kolleginnen und Kollegen die Tasche vollgemacht auf Kosten der Patientinnen und Patienten. Der Professor erzählt von einer Ärztin aus dem Ruhrgebiet, die auch bei dem bekannten Fernseharzt Hirschhausen im Fernsehen auftrat, und von maßgeblichen Erfolgen durch „Blutwäsche“ berichtet – mit Effekten einer Wunderheilung, gleich einem Lazarus-Effekt. Prof. Kleinschnitz ärgert das maßlos: „Für zehn-, zwölf- oder fünfzehntausend Euro wurden die Patienten behandelt. Das wäre meiner Ansicht nach ein Fall für die Ärztekammer gewesen! Die angekündigte Veröffentlichung ihrer Daten steht bis heute aus.“
Die Apharese sei ein hochwirksames Verfahren, wenn wirklich eine entzündliche Erkrankung dahinterstecke – beispielsweise eine Multiple Sklerose. Bei Post-COVID oder ME/CFS wirke sie nicht. Anstatt die Menschen ordentlich psychotherapeutisch zu behandeln, habe man zugelassen, dass sich einige an der Krankheit bereichert haben.
Erfolge durch Psychotherapie?
Angesichts der Vermutungen zur psychiatrischen Genese stellt sich die Frage, ob denn durch eine psychotherapeutische Behandlung bereits Erfolge erzielt werden konnten. „Ich gehe absolut mit, dass auch die Psychotherapie und die Psychosomatik beweisen müssen, dass ihre Therapie wirkt – wie ein Medikament, das seine Wirksamkeit auch in Studien darlegen muss.“ Doch mit Blick auf die Historie und bekannte Behandlungsverfahren gehe er davon aus, dass entsprechende Methoden anschlagen werden. Der Beweis stehe aber noch endgültig aus und werde aktuell in Studien geprüft. Einige dieser Arbeiten hätten bereits Erfolge durch Antidepressiva, Psychotherapie und auch Reha-Maßnahmen für sich verbuchen können – „auch wenn beispielsweise der Erfolg einer Reha von der Community oft bestritten wird“.
Keiner fühle sich zuständig
Letztlich fühle sich wohl keiner so richtig zuständig. Dass psychosomatische Konzepte abgelehnt werden, sei das Grundproblem dieser Erkrankung. Manche Betroffene seien keinem psychologischen Behandlungskonzept mehr zugänglich. „Sie haben in der schwersten Form der Erkrankung eine sehr schlechte Prognose, vor allem wenn sie chronifiziert ist. Wie eine schwere Essstörung eben auch eine schlechte Prognose hat!“
Es sei sinnvoll, bei Diagnosestellung schon früh eine Therapie in entsprechender Richtung einzuleiten. Aber: „Das Problem ist: So viele Therapeuten haben wir gar nicht in Deutschland! Unabhängig von Post-COVID gibt es eine Zunahme an psychischen Erkrankungen und die Versorgungslücke ist hinlänglich bekannt.“
Prof. Kleinschmitz hätte sich von dem Fachgebiet der Psychosomatik eine klarere Haltung und mehr Aktivität gewünscht. „Die hätte eigentlich jetzt ihre Zeit, ihre Konzepte voranzubringen!“, fordert er. Ferner sollten psychotherapeutische Studien – und nicht nur Medikamentenstudien – durch den Bund gefördert werden, „das wäre doch naheliegend", findet er.